Warum Sexualität im Christentum so wichtig ist

Das Christentum gilt als patriarchale Religion, und nicht ohne Anlass. Tatsächlich lässt sich mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass das Christentum sexbesessen ist – aber das musste es vielleicht aufgrund der Umstände auch sein. Hier versuche ich dazu eine Spurensuche.

Schon zu antiken Zeiten wurde im Christentum über das Geschlechterverhältnis gestritten. Ein Gegner weiblicher Autorität war zum Beispiel der Autor des Ersten Timotheusbriefes: Er beschreibt das Heben der Hände ausdrücklich als eine für Männer reservierte Gebetspraxis, Frauen hingegen sollten still sein und Kinder gebären. Der das geschrieben hat, ist nach übereinstimmender Expertenmeinung allerdings nicht Paulus, sondern gibt sich nur als Paulus aus.

Vorschriften und Regeln zur Sexualität und zum Geschlechterverhältnis sind freilich keine christliche Besonderheit, es gibt sie in allen Religionen. Aber üblicherweise haben sie eher pragmatischen Charakter. Sie regeln den Alltag, tiefere theologische Bedeutung haben sie nicht. Im Christentum hingegen ist die Obsession mit Sex und Gender zu einem Markenkern geworden: Wenn man heute evangelikale Wortführer oder den römisch-katholischen Papst hört, könnte man meinen, der Feminismus sei die schlimmste Verirrung, die die Menschheit je gesehen hat. Der Kampf gegen Frauenemanzipation, Homosexualität und andere vermeintliche sexuelle Abweichungen wird von den USA über Brasilien bis Polen mit einer Inbrunst geführt, die man bei anderen Anliegen wie sozialer Gerechtigkeit oder Frieden auch gerne sehen würde.

Warum? In der Bibel spielen solche Themen schließlich kaum eine Rolle. Jesus selbst äußert sich nicht zu Abtreibung, Homosexualität oder zum Verhältnis der Geschlechter. Nur den Ehebruch verurteilt er: „Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen“, heißt es in der Bergpredigt. Das klingt wirklich streng. Aber wenn es nach der Bergpredigt ginge, dürfte man auch nicht schwören, keine Reichtümer ansammeln, müsste den Bösen die andere Wange hinhalten und dem Hemden-Dieb auch noch einen Mantel dazugeben. Kaum jemand zieht diese Ethik konsequent durch.

Um zu verstehen, warum Geschlechterthemen so eine Bedeutung im Christentum bekommen haben, darf man nicht nur die Lehre Jesu befragen, man muss vor allem auf die Debatten schauen, die nach Jesu Tod geführt wurden. Also in den frühen Jahrhunderten, in denen sich aus der jüdischen Jesusbewegung nach und nach eine eigene Religion formte. Leider ist nur ein winziger Ausschnitt der damals verfassten Texte überliefert, und das auch oft nur fragmentarisch. Unbestreitbar ist aber, dass Sex und Gender darin ein wichtiges Thema war.

Das „Evangelium der Maria“ zum Beispiel, eine christliche Schrift aus dem 2. Jahrhundert, beschreibt Maria Magdalena – und nicht Petrus – als wichtigste Jüngerin. Auch andere apokryph gewordene, also nicht in den biblischen Kanon aufgenommene Texte zeigen Frauen in gleichberechtigten Rollen (Die „Weisheit Jesu“, der „Glaube der Sophia“, der „Dialog des Erlösers“) oder zumindest in sehr wichtigen (Thomasevangelium, Ägypterevangelium). Es ging aber nicht einfach nur um weibliche Emanzipationskämpfe oder männliche Machtambitionen – sondern um genuin theologische Fragen.

Grund 1: Die geburtliche Natur Christi

Denn es gibt Gründe, warum sich das Christentum intensiver als andere Religionen mit dem Thema der Sexualität beschäftigten musste. Der erste ist die Natur Christi: Jesus, ein Mensch, soll der (göttliche) Erlöser sein – wie war das möglich? Antike Menschen konnten sich kaum vorstellen, dass ein göttliches Wesen sich durch einen Geburtskanal gequetscht und voller Blut und Schmiere das Licht der Welt erblickt haben könnte. Menstruations- und Geburtsblut galten im Alten Israel als unrein, und auch die hellenistische Philosophie verstand Geburten als etwas Irdisches und Materielles, das der geistig-spirituell-erhabenen Sphäre diametral entgegenstand.

Zahlreiche Erzählungen versuchten deshalb, auf teils sehr originelle Weise, das Geschehen rund um Jesu Geburt weniger eklig und feucht darzustellen. In der „Himmelfahrt des Jesaja“ etwa, einer Schrift aus dem 2. Jahrhundert, steht, „dass Maria alsbald mit ihren Augen hinschaute und ein kleines Kind sah“: Offenbar war das Baby ohne Schmerz und Schmutz quasi aus ihr herausdiffundiert. Andere bestritten geradeheraus, dass Jesus überhaupt geboren wurde. Oder sie gaben zwar zu, dass Maria mit Sexuellem in Kontakt gekommen sein musste, argumentierten aber, dass das nicht so richtig zähle, weil sie den Embryo ja „keusch“ empfangen habe. Bei diesen Debatten ging es nie nur um Maria als einzelne Person, sondern um alle Frauen – zusammen mit den Umständen von Jesu Geburt wurde immer auch die Bedeutung von Weiblichkeit verhandelt.

Grund 2: Das Geschlecht des Erlösers

Aber nicht nur der Geburtsvorgang selbst, auch das – männliche – Geschlecht des Erlösers warf Fragen auf: In welchem Verhältnis steht Jesu Mannsein zur „geschlechtsneutralen“ Bedeutung Christi? Einige scheinen das Modell „männlich-weibliche Doppelspitze“ vertreten zu haben, denn es gibt zahlreiche frühe Zeugnisse und Abbildungen, die Jesus und Maria in parallelen Rollen darstellen. Zum Beispiel Abendmahlskelche, die auf der einen Seite Jesus, auf der anderen seine Mutter in jeweils ähnlichen Körperhaltungen zeigen, oder Darstellungen der Jesusbewegung, die Maria als Anführerin der Jüngerinnen und Jesus als Anführer der Jünger zeigen.

Eine andere Tradition versuchte hingegen, die Männlichkeit Jesu zu relativieren. „Ich bin der Vater, ich bin die Mutter, ich bin der Sohn“ spricht Christus zum Beispiel in den Johannesakten, die vermutlich im 2. Jahrhundert verfasst sind. Die Märtyrerin Priscilla, die der Legende nach mit nur 13 Jahren in Rom enthauptet wurde, wird mit den Worten zitiert: „Christus kam zu mir in der Gestalt einer Frau, in schimmernden Gewändern, und warf Weisheit in mich.“ Clemens von Alexandria vergleicht den christlichen „Logos“ mit „Brüsten, die Milch geben.“ So gesehen wäre Jesus nicht wirklich ein Mann, sondern androgyn gewesen.

Letztendlich setzte sich aber eine dritte Variante durch. Bereits in antiken Texten – christlichen wie anderen – gibt es Erzählungen von Frauen, die quasi eine Geschlechtsumwandlung erleben und dann „wie Männer“ sein können. Im Mittelalter wurde die Idee vorherrschend, dass Frauen gar kein eigenes Geschlecht sind, sondern lediglich unvollständige, defizitäre Männer. Unter diesen Vorzeichen kann ein männlicher Christus natürlich auch sie erlösen – gewissermaßen als theologische Version des generischen Maskulinums: Das Weibliche ist im Männlichen „mitgemeint“.

Grund 3: Zurück ins Paradies?

Ein weiteres heiß diskutiertes Thema, das Debatten über Sexualität und Geschlecht herausforderte, war die Frage der Erlösung. Viele frühe Christinnen und Christen glaubten, dass Christus einen Weg zurück in paradiesische Zustände eröffnet habe. Deshalb sind antike Kirchen voll mit Paradiesdarstellungen. Laut Genesis sind sich Eva und Adam aber erst nach der Erkenntnis von Gut und Böse ihrer Geschlechtlichkeit bewusst geworden. Erst dann konnten sie nicht mehr unschuldig nackt im Garten Eden bleiben, sondern brauchten Regeln und Grenzen, die die Sexualität betreffen. Wenn wir nun aber dank Jesus ins Paradies zurückkönnen – sind wir dann immer noch an diese Regeln und Grenzen gebunden?

Jesus selbst hat gesagt (Markusevangelium, Kapitel 12, Vers 25), dass Menschen nach der Auferstehung weder heiraten noch sich heiraten lassen. Existiert so etwas wie Sex und Gender also dann überhaupt noch? Auch Paulus schreibt im Galaterbrief (Kapitel 3, Vers 28), in Christus gebe es „nicht mehr männlich und weiblich“. Noch deutlicher wird das apokryph gewordene Thomasevangelium, wo Jesus sagt, das Königreich Gottes werde erreicht, indem man „das Männliche und das Weibliche zu einem einzigen macht, auf dass das Männliche nicht männlich und das Weibliche nicht weiblich sein wird.“ Das ist näher an moderner Queertheorie als am christliche Mainstream von heute.

Grund 4: Das Keuschheitsideal

Zumal viele frühe Christ*innen nicht erst nach der Auferstehung, sondern auch schon im Hier und Jetzt eheliche Beziehungsstrukturen auflösen wollten. Die Andreasakten, ebenfalls aus dem 2. Jahrhundert, erzählen die Geschichte der Römerin Maximilla, die vom Apostel Andreas – dem Bruder von Petrus – zum Christentum bekehrt wurde und daher beschließt, keinen Sex mehr zu haben. Damit ihr Mann Aigeates, römischer Statthalter im griechischen Patras, nichts davon merkt, weist sie ihre Sklavin Euklia an, für ihn nachts sexuell verfügbar zu sein und zeigt ihr, wie sie ihn im Bett täuschen kann. Tatsächlich geht das acht Monate lang gut, und statt mit ihrem Ehemann verbringt Maximilla ihre Nächte im Kreis der christlichen Gemeinde mit Andreas. Doch letzten Endes kommt Aigeates hinter die Scharade und tötet alle – Euklia, drei weitere Sklav*innen, Andreas und sich selbst. Nur Maximilla lebt fortan ein friedliches Leben als Christin.

Wenn also heute junge Amerikanerinnen ihren Vätern und Gott bei so genannten „Keuschheitsbällen“ versprechen, dass sie bis zur Eheschließung keinen Sex haben werden, verstehen sie das antike christliche Keuschheitsideal völlig falsch. Für die frühen Christinnen ging es nicht darum, sich für einen zukünftigen Ehemann „aufzusparen“, sondern um Sexlosigkeit generell, um ein Leben außerhalb traditioneller heterosexueller Paarbeziehungen.

Noch im vierten Jahrhundert legte Bischof Gregor von Nazianz als Metropolit von Konstantinopel den Frauen nahe: „Lebt jungfräulich, damit ihr die Mütter von Christus werdet.“ Doch der Aufstieg des Christentums von einer religiösen Bewegung zur Staatsreligion erforderte auch in diesem Punkt Kompromisse. Die Abkehr von der heterosexuellen Ehe stand nicht nur im Widerspruch zu antiken Sitten und Geschlechtermodellen, sie war im Römischen Reich geradeheraus illegal: Speziell Angehörige der Eliten waren dort gesetzlich verpflichtet, zu heiraten und legitimen Nachwuchs hervorzubringen.

Nicht der Versuch, sich für feministische und queere Geschlechterdiskurse zu öffnen, ist also eine Anpassung an den Zeitgeist, wie konservative Theologen manchmal behaupten – das Einschwenken auf die Linie des patriarchalen römischen Familienrechts zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert war es. Wenn heute feministische Theolog*innen eine Revision der traditionellen christlichen Geschlechterbilder fordern, stülpen sie dem Christentum nicht anachronistisch moderne Kriterien über, sondern greifen Fragen (wieder) auf, die von Anfang an im Christentum diskutiert wurden: Es sind Themen, die im Zentrum der christologischen und dogmatischen Grundfragen stehen.

Verwendete Literatur:

Outi Lehtipuu, Silke Petersen (Hg): Antike christliche Apokryphen. Marginalisierte Texte des frühen Christentums, Kohlhammer 2020.

Ally Kateusz: Mary and Early Christian Women, Pallgrave Macmillan (open Access), 2019.

Rita Nakashima Brock und Rebecca Ann Parker: Saving Paradise. How Christianity Traded Love of This World for Crucifixion and Empire, Barnes and Noble, 2008.

Silke Petersen: The Female Side of Christ, Vortrag am 21.1.2020 in Frankfurt am Main.

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