Wie politisch darf_muss Religion sein? Beziehungsweise: In welchem Verhältnis stehen religiöser Glaube und politisches Engagement? Sollen sich religiöse Überzeugungen (nicht) in die Politik einmischen?
Diese Fragen sind ja ziemlich aktuell. Die allgemeine Stimmung in Deutschland scheint momentan eher in die Richtung zu laufen, dass sich Religion gar nicht politisch einmischen soll, sondern Privatsache ist. Vor zwanzig, dreißig Jahren war die Debatte noch andersrum: Da wurde darüber geklagt, dass die Kirche zu unpolitisch sei und sich zum Beispiel nicht laut genug gegen Ungerechtigkeit und Kapitalismus und Kolonialismus zu Wort melde.
Beziehungsweise nein, eher haben sich die Seiten verdreht. Während vor zwanzig, dreißig Jahren die Rechten für eine unpolitische Kirche waren („Nicht zu viel Politik auf der Kanzel!“) und die Linken „Theologie der Befreiung“ predigten (manche sammelten sogar Geld für Waffen für Nicaragua), ist es heute andersrum: Die Rechten mobilisieren in christlichen Kreisen gegen Bildungspläne und zu lasche Sterbehilfe-Verbote, während die Linken eine strikte Trennung von Staat und Kirche wollen und es am liebsten sähen, wenn sich Religion nur im privaten Kämmerlein abspielte.
Und bei manchen ist es sogar so, dass die Trennung zwischen dem Wunsch nach politischer und unpolitischer Religion je nach Thema schwankt: Wenn die Religiösen meiner Meinung sind, sollen sie sich bitte auch politisch dafür stark machen, wenn sie nicht meiner Meinung sind, sollen sie bitte den Mund halten.
Das Problem mit dem Verhältnis von Religion und Politik stellt sich vor allem (oder nur?) in Gesellschaften, in denen das Konzept „Gott“ nur bei Teilen der Bevölkerung in Gebrauch ist. Also vor allem in modernen, säkularen Gesellschaften, in denen es nicht als Argument gilt, wenn ich mein politisches Projekt mit „Gott will das so“ begründe, weil es genügend Menschen gibt, die dann antworten: „Na und, ist mir doch egal“. (In nicht säkularen Gesellschaften hingegen gehen politische Debatten dann normalerweise mit „Nee, Gott will was anderes“ weiter).
Mir persönlich gefallen säkulare Gesellschaften besser, weil ich der Meinung bin, dass die Frage, was Gott will, in politischen Debatten nichts zu suchen hat – ganz einfach deshalb, weil Menschen nicht zweifelsfrei wissen können, was Gott will, und daher dieses Argument immer Gott für die eigenen Ansichten instrumentalisiert und daher im Kern gotteslästerlich ist.
Aber das Dilemma stellt sich nicht erst in säkularen Gesellschaften, sondern in allen. Jedenfalls ist es im Christentum schon früh erkannt worden; ich glaube sogar, dass die Abkehr von der Praxis, sich bei der politischen Durchsetzung eigener Wünsche und Ideen auf Gott zu berufen (die in der Antike gang und gäbe war und es in vielen Weltregionen heute noch ist), zum Kern des Christentums gehört – auch wenn das später natürlich vielfach von der Kirche missachtet und geleugnet wurde. Aber Teile davon haben sich durch die ganze christliche Geschichte gezogen. In der Säkularisierung sehe ich daher keine Gegenbewegung zum Christentum, sondern die Umsetzung einer ihrer wichtigsten Strömungen, die etwas ganz Wesentliches der christlichen Botschaft betont.
Und zwar den klaren Ausspruch von Jesus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Johannesevangelium 18,26), an dem es ja eigentlich nichts zu deuteln gibt. Im Kontext wird das sogar noch klarer: Pilatus fragt, warum seine Anhängerinnen und Anhänger ihn denn nicht vor der Verhaftung gerettet hätten, ja es noch nicht einmal versuchten. Und Jesus antwortet: „Wäre mein Reich von dieser Welt, so hätten meine Diener gekämpft, … nun aber ist mein Reich nicht von hier.“ Das ist eine klare Absage daran, die eigenen religiös begründeten Wünsche (nämlich Jesus als König zu haben, zum Beispiel) mit weltlichen Macht- und Kampfmitteln durchzusetzen.
Der Wert der so genannten „Zwei-Reiche-Lehre“ wird meiner Meinung nach sehr unterschätzt. Die schlechte Meinung, die viele von ihr haben, kommt vor allem von einer bestimmten Auslegung, die sie im Anschluss an Paulus erfahren hat, der das Ganze im Römerbrief ja noch einmal sehr zugespitzt hat. Da schreibt er nämlich (Kapitel 13): „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam“ – besser bekannt in der etwas krasseren Lutherübersetzung „Jedermann sei untertan der Obrigkeit“ – und weiter: „Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes.“
Das ist lange als Argument gegen jegliche Art von Aufstand und Revolution ausgelegt worden (zum Beispiel von Luther), aber das geht meiner Meinung nach am Kern dessen, was Paulus sagen will, vorbei. Er schreibt ja weiter: „Seid stets darauf bedacht und gebt allen, wozu ihr verpflichtet seid: Wem ihr Abgaben zahlen müsst, zahlt Abgaben. Wem ihr Zoll zahlen müsst, zahlt Zoll. Wen ihr fürchten müsst, fürchtet. Wen ihr achten müsst, achtet.“ Ich lese darin nicht einen Appell zur Unterwürfigkeit, sondern einen Appell, dass Christinnen und Christen sich als Teil der Welt begreifen sollen und dass sie nicht aus ihrem Glauben das Recht ableiten können, sich an bestimmte Gesetze nicht halten zu müssen oder Sonderrechte beanspruchen zu können oder sonst etwas dergleichen. Was Paulus hier letzten Endes tut, ist nichts anderes, als ein säkulares Staatsverständnis zu begründen: Es stellt klar, dass es für Christinnen und Christen nicht legitim ist, eine staatliche, weltliche Ordnung mit dem Argument abzulehnen, dass sie gegen Gottes Willen sei. Denn jede staatliche Ordnung ist nach Gottes Willen.
Das bedeutet meiner Meinung nach nicht die Unterordnung unter jeden Diktator und Tyrannen. Denn insofern Christinnen und Christen Teil der Welt sind, können und müssen sie dort natürlich handeln wie alle anderen Leute auch. Sie sind ganz normale Menschen mit Meinungen, Rechten, Möglichkeiten und so weiter, und als solche können sie auch ganz normal politisch aktiv sein. Sie können Mitläufer, Revolutionärinnen, Könige, whatever sein. Nur mit Gott hat das Ganze eben nichts zu tun. Sich der Obrigkeit unterzuordnen bedeutet, die Regeln und Gesetzmäßigkeiten der weltlichen Politik zu respektieren, also sich im Bereich des Politischen auf die jeweils üblichen Prozesse zu beschränken und nicht „im Namen des Herren“ eine besondere Legitimität für sich selber zu beanspruchen.
Gottes Reich ist nämlich nicht von dieser Welt, sondern es spielt sozusagen auf einer anderen Ebene. Auch von dieser anderen Ebene ist im Römerbrief die Rede. Die Begründung, die Paulus dafür gibt, dass Christinnen und Christen die staatliche Ordnung anerkennen sollen, ist ja interessant: „Dann seid ihr niemandem etwas schuldig – außer einander zu lieben. Denn wer andere liebt, hat die Tora erfüllt.“
Punkt, Basta. Gottes Reich hat nur ein einziges Gebot, und dieses Gebot ist der Maßstab, den Christinnen und Christen an sich anzulegen haben und an dem sie ihr politisches Engagement überprüfen müssen: Lieben sie die anderen? (und bekanntlich schließt das ja christlich gesehen explizit ihre Feinde und Feindinnen ein!) – das ist alles, was Gott von ihnen will.
Das wiederum ist freilich nicht gerade wenig, aber es ist kaum etwas, das sich nach „weltlichen“ Maßstäben überprüfen oder gesetzlich vorschreiben ließe. Aus dem Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (immer noch Römerbrief) lässt sich nicht ableiten, ob ich zum Beispiel für oder gegen Sterbehilfe bin oder für oder gegen Waffenlieferungen an die kurdischen Truppen im Irak. Sondern was ich mich fragen muss, ist: Bin ich für oder gegen Sterbehilfe, Waffenlieferungen, whatever weil ich die anderen, inklusive meiner Feinde, liebe? Oder liebe ich sie nicht, sondern habe andere Gründe und Motive für mein Handeln?
Damit lässt sich aus der Zwei-Reiche-Lehre auch schließen, dass die weltliche Seite der Religionen – Institutionen wie die Kirche zum Beispiel – ebenfalls nicht politisch agieren dürfen. Es ist sicher sinnvoll, als große Glaubensgemeinschaft irgendwelche Strukturen und Organisationsformen herauszubilden, aber diese sind ja ganz klar Teil der „weltlichen Reiche“ und nicht die institutionelle „Hand Gottes“. Die Trennung von Staat und Kirche ist meiner Meinung nach durch die Zwei-Reiche-Lehre in den Grundprinzipien des christlichen Glaubens verankert.
Damit ist aber nicht gesagt, dass Religion nur Privatsache wäre, eine Art persönlicher Geschmack, der keine Auswirkungen auf die Welt hätte. Das wäre ja eine ziemlich witzlose und überflüssige Angelegenheit. Im Vaterunser heißt es ja explizit: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auch auf der Erde.“ Also nicht nur im Himmel.
Gottes Reich ist nicht irgendwo im Jenseits, sondern „mitten unter euch“, wie Jesus an anderer Stelle sagt. Und es gibt ja massenweise Gebote, Geschichten und Gleichnisse, die schildern, wie es im Reich Gottes zugeht, und sie spielen alle auf der Erde, im Hier und Jetzt. Sie sind sozusagen die „Ausführungsbestimmungen“ zum Liebesgebot: Von den zehn Geboten über die Bergpredigt bis zum verlorenen Sohn oder dem Scherflein der Witwe und so weiter und so fort ist die Bibel voll von sehr konkreten und anschaulichen diesbezüglichen Ausführungen.
Aber das sind eben keine Gesetze oder universelle Regeln, sondern Geschichten, Beispiele, eben Hilfestellungen zur Umsetzung des Liebesgebots. Es sind Inspirationen, an denen man sich orientieren kann – und die sehr oft der „weltlichen Logik“ des Lebens diametral entgegenstehen. Sie sind sehr radikal, aber das können sie nur sein, weil sie eben niemals die Form von weltlicher Macht annehmen dürfen: „Wann kommt das Reich Gottes?“ fragen die Pharisäerinnen und Pharisäer (Lk 17, 20ff), und Jesus antwortet: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es!, oder: Da ist es! Denn das Reich Gottes ist mitten unter euch.“
Das Reich Gottes kommt nicht dann, wenn wir ein Gesetz gegen Einkaufen am Sonntag haben, sondern es ist da, wenn Menschen regelmäßig einen Ruhetag einlegen, um einen Raum zu schaffen, in dem sie sich auf anderes als ihr Alltagsgeschäft besinnen können. Das Reich Gottes kann nicht politisch eingefordert werden, sondern es ist schlicht und einfach da, wo Leute entsprechend leben. Und wo sie es nicht tun, da ist es eben nicht. Keine weitere Pointe. Das Reich Gottes ist gleichzeitig da und nicht da, gleichzeitig Utopie und Realität.
Dass Menschen nicht losziehen und im Namen Gottes weltliche Macht beanspruchen oder ausüben, ist jedenfalls eine wesentliche Vorbedingung dafür. Gottes Reich ist garantiert nicht da, wo Menschen in Gottes Namen Macht ausüben. Es ist zwar auf dieser Welt, aber nicht von dieser Welt.
Ehrlich, je länger ich über die Zwei-Reiche-Lehre nachdenke, desto grandioser finde ich sie.
Hallo Antje,
keine Widerrede, sondern möglicherweise eine leichte veränderte Sichtweise….
Ulrich Bach war Rollstuhlfahrer und ihm wurde die Tür aufgehalten, und der Mann meinte, weil es doch in der Bibel stünde. Und Ulrich Bach fragte in den Volmarsteiner Rasiertexten, ob er ihm nicht die Tür aufgehalten hätte, wenn es nicht in der Bibel stünde…
Wenn Dinge richtig sind, sollte man sie machen, auch wenn in der Bibel nichts dazu steht.
Und wenn sie falsch sind, sollte man sie lassen, auch wenn sie in der Bibel stehen.
Mir ist wichtig, dass die Bibel kein theologische Sudoku ist, dass der liebe Gott irgendwann in der Vergangenheit aufgestellt hat, damit wir es in der Gegenwart widerspruchsfrei lösen können.
Im Gegenteil, ich bin davon überzeugt, dass wir eine widersprüchliche Bibel bekommen haben, damit wir Gott glauben, dass wir auch zu unseren Widersprüchen so stehen können, wie er zu uns steht.
Gemeinhin meint man ja in evangelikalen Kreisen, dass ein allmächtiger Gott nur eine perfekte widerspruchsfreie und fehlerfreie Bibel inspiriert haben könne. Und so versuchen sie, auf Teufel komm raus als Widersprüche wegzuerklären.
In liberaleren Kreisen meint man auch, dass ein allmächtiger Gott eine fehlerfreie Bibel inspiriert hat. Bei der Inspiration ist auf der menschlichen Seite aber was schief gegangen. So ist nicht Gott, sondern die Bibelautoren sind für die Widersprüche verantwortlich.
Ich glaube, dass Gott die ganze Bibel (egal welche Übersetzung/Ausgabe) inspiriert hat – so wie wir sie haben. Da ist Literatur dabei, da sind Listen, da ist Geschichtsschreibung, das sind Parodien, sogar politisch-religiöses Kabarett glaube ich ausgemacht zu haben.
Folge dieser Auffassung:
1. Wir bleiben verantwortlich, was wir aus der Bibel machen. Die Bibel nimmt uns keine Entscheidungen ab.
2. Viele dogmatische Entscheidungen aus der Vergangenheit sind viel weniger eindeutig, als man so gemeinhin dachte.
Das bedeutet nun nicht, dass Kirche unpolitisch werden muss. Sie muss nur aufpassen, wie sie manche Dinge begründet hat und sie begründet.
Und da steckt der Teufel im Detail.
Ich finde es gut, wenn sich die Kirche für Menschenwürde auch am Lebensende einsetzt.
Nur verstehe ich bis heute nicht, dass in einer Welt, in der das Leben von der Zeugung an kulturell geprägt ist, einzig der Sterbezeitpunkt kulturell ungeprägt bleiben soll.
Ja, das Leben ist ein Geschenk, und es ist gut, dass das Töten grundsätzlich verboten ist.
Aber wenn das Geschenk zu unerträglichen Qual wird, muss man (ggf. durch Schmerzmittel gedämpft) aushalten bis zum letzten Atemzug, ohne Notausgang?
Ja, sagen manche Vertreter, es soll zwar verboten bleiben, aber in begründeten Ausnahmefällen soll es irgendwie dann doch toleriert werden. Aber es darf einem keiner helfen, der Ahnung davon hat…
Was ist die Folge? Suizid und aktive Sterbehilfe bleiben ein Tabu. Die einzigen, mit denen man drüber reden kann, sind die bekannten Sterbehilfe-Vereine. Von allen anderen muss man erwarten, dass sie das Ansinnen ablehnen.
Die Ärzte dürfen es wegen der Standesorganisationen nicht.
Wenn dann in den ethisch legitimierten Einzelfällen doch die Entscheidung zu einem Suizid/zu aktiver Sterbehilfe fallen sollte, bleiben die Betroffenen und ggf. deren Angehörigen allein. Die entscheidende Tat bleibt in den Händen von Dilettanten. Ich finde das gräuslich.
Wenn es im Einzelfall ethisch ok ist, dann muss es auch Fachleute geben können, die man fragen kann, wie man es würdig und richtig machen kann, ohne dass dabei etwas schief geht, ohne dass Angehörige traumatisiert zurück bleiben usw.
Und diese Fachleute müssen die Kompetenz mitbringen, sich ein eigenes Bild davon machen zu können, ob es im Einzelfall ethisch ok ist.
Dass heißt, sie müssen medizinisch eine Menge Ahnung haben und in der Lage sein, Diagnosen abzuchecken und zu hinterfragen.
Manch einer glaubt ja, er sein sterbenskrank und hat noch nicht mal eine abgesicherte Diagnose.
Andere haben die Diagnose, kennen aber die Behandlungsmöglichkeiten nicht.
Manche kennen die Behandlungsmöglichkeiten, haben aber nie mit den Angehörigen darüber gesprochen, ob und welche dieser Möglichkeiten sie mittragen würden, auch wenn es an die Substanz geht. Um ihnen diese Last zu ersparen, wollen die Betreffenden dann lieber sozialverträglich aus dem Leben scheiden und ohne irgendwelchen Aufwand anonym verbuddelt werden. Dass die Angehörigen unter dem Tod schrecklich leiden und darunter, dass sie auf dem Grab nicht gärtnern können, weil es kein Grab gibt, hat man mit ihnen leider nie abgesprochen.
Ich hätte gerne, dass der aktive Sterbehelfer/Suicidhelfer die Kompetenzen besitzt, den Betreffenden in seiner Entscheidung qualifiziert infrage zu stellen und ggf. mit dessen Angehörigen über alle diese Fragen ins Gespräch zu bringen.
Und er müsste natürlich psychiatrisch gut drauf sein, um Depressive und ähnliche behandeln / Behandlung vermitteln zu können.
Es ist völlig klar, dass diesen Job niemand als Hobby machen könnte, sondern dass es sich um höchstbezahlte Spezialisten handeln müsste, die ergebnisoffen nicht nur beraten können, wie man schnellstmöglich ablebt, sondern die auch einen Stapel Ideen, wie man mit einem Maximum an Lebensqualität noch eine Weile weiter leben könnte.
Mir schwebt dazu eine Regelung ähnlich dem §218 vor: Grundsätzlich verboten, unter bestimmten Umständen aber straffrei. Denn manche Fragen kann man nicht gegen den Betroffenen klären, sondern nur mit ihm. Auch wenn man dabei scheitert oder jemand in seinem Scheitern begleiten müsste. Jedenfalls will und kann man ihn oder sie nicht allein lassen.
So mal grob skizziert.
Muss davon irgendwas in der Bibel stehen?
Ich finde es in sich stimmig und sinnvoll.
Wenn das so ist, sollte man es machen.
Wenn nicht, dann nicht.
Egal ob zwei Reiche, drei Reiche oder ein Reich. Oder so.
Aber aus der Tatsache, dass das Leben ein Geschenk ist, folgt noch lange nicht, dass jeder auch dazu verpflichtet ist.
Der Punkt ist nicht, dass die Kirche sich nicht politisch einmischen sollte. Wenn es um die Menschenwürde geht, soll sie sich selbstverständlich einmischen.
Und hier geht es um die Menschenwürde.
Zweifellos.
Viele halten einfach nur nicht mehr die Einsamkeit aus.
Andere haben ein derartiges Idealbild vom Leben, dass sie an diesem Ideal nur scheitern können. Wenn man mit ihnen drüber sprechen könnte, dass sie auch schwächer und hilfebedürftig nicht weniger wert sind als in ihren starken und scheinbar autonomen Zeiten: Vielleicht würden sie dann auch noch weiterleben wollen.
Es ist gut, wenn Kirche darauf drängt, dass jemand sein Leben nicht einfach wegschmeißt.
Aber Kirche soll daraus nicht ein unumstößliches Prinzip machen.
Ist der Mensch für den Sabbat da oder der Sabbat für den Menschen?
Das ist doch die Kernfrage!
Und da stört es mich, wenn sich die Kirchen auf abstrakte Prinzipien zurück ziehen, von denen es keine Ausnahme geben darf.
Die Bibel selbst ist übrigens ein sehr vielgestaltiges Buch, in dem so mancher Sachverhalt mehrfach und widersprüchlich dargestellt ist. Dann zwingt uns nichts und niemand dazu, alles einheitlich regeln zu müssen.
Ob mit einem oder zwei Reichen.
Was richtig und was falsch ist, müssen wir gemeinsam aushandeln.
Das kann uns keine Tradition, keine Unfehlbarkeit o.ä. abnehmen.
Und die Kirchen und Religionen sollen ruhig mit aushandeln. Solange sie offen bleiben für die Realität. Und die Entscheidungen muss jeder für sich verantworten.
Aus der Geschichte der Bindung Isaaks entnehme ich, dass auch das göttlichste Gebot menschenverachtend sein kann, und dass man dann dagegen aufbegehren sollte.
Abraham hat erst in allerletzter Sekunde begriffen, dass das nicht Gottes Wille sein kann, was er da vorhatte. Ich möchte nicht wissen, wie traumatisiert dieses Erlebnis Isaak zurück gelassen hat.
Wenn Kirche also meint, sich für bestimmte feste Regeln einsetzen zu müssen, dann sollte sie die Ausnahmen und Öffnungsklauseln immer gleich mitbedenken. Der Mensch ist wichtig, nicht das Prinzip.
Wer das begriffen hat, wird auch eine Chance haben, Gottes Reich aufblitzen zu sehen. Hier in dieser Welt. Ohne es hier ganz fassen zu können. Denn auch wenn es ganz nahe ist und hier schon aufblitzen kann: Es bleibt hier immer nur vorläufig…
Darum sollte sich auch keine Religion über die andere erheben.
Womit ich zu Paulus und 1. Kor 13 komme: Die Liebe bleibt immer etwas wichtiger als der Glaube. Auf dieser greundsätzlich offenen Grundlage sollten Gläubige und Ungläubige eigentlich gut miteinander auskommen können.
Irgendwie scheint es mir, als so Christus genau deswegen gestorben – und auferstanden.
Kannst Du damit in diesem Zusammenhang etwas anfangen?
Der Vorteil wäre, dass man nicht künstlich zwei Reiche aufteilen und Gott aus dem einen raushalten muss. Wie soll das auch gehen? Gibt es etwas, wo er/sie /es nicht rein passt?
Und doch kann man sich flexibel zeigen und muss nicht alles für alle verbindlich regeln.
Christentum und Säkularisierung können Freunde bleiben.
Nur Tyrannen können nicht Tyrannen bleiben. 🙂
Die passen einfach nicht rein.
@Bernd – „Der Vorteil wäre, dass man nicht künstlich zwei Reiche aufteilen und Gott aus dem einen raushalten muss. Wie soll das auch gehen? Gibt es etwas, wo er/sie /es nicht rein passt?“ – Ja, ich glaube, in alles was mit formaler Macht und mit Gesetzen und von Entscheidungsbefugnissen mancher Menschen über andere Menschen zu tun hat – da passt Gott nicht rein, das war es, was ich sagen wollte 🙂 _ Ich finde die Aufteilung in zwei Reiche nicht künstlich, sondern logisch und notwendig…
Danke für diese wunderbare Zusammenfassung! Es drückt sehr genau aus, was ich auch empfinde, aber ich hätte es niemals so formulieren können. Als ich das letzte Mal einen Gottesdienst besucht habe (was nicht so häufig vorkommt), saß ich weinend in der Kirche und dachte – über 2000 Jahre alt sind nun die Lehren von Jesus, und wie wenig haben wir davon verstanden! Ich denke, wir sind alle ein wenig so wie er, wir alle sind Kinder Gottes, und wenn wir nicht auf das Heil von außen warten, sondern es in uns wissen und es um uns herum schaffen, indem wir das Liebesgebot befolgen – und zwar bewusst, auch wenn wir die Liebe vielleicht noch nicht fühlen können, vielleicht wenigstens versuchen so zu handeln, als würden wir wie Jesus lieben – dann kann jeder von uns die Welt ein klein wenig besser machen…
Selten möchte ich mich zu religiösen Aspekten artikulieren, ich überlasse das in der Regel den religiösen Menschen unter uns, aber hier ist die Abweichung von der Regel:
„Die allgemeine Stimmung in Deutschland scheint momentan eher in die Richtung zu laufen, dass sich Religion gar nicht politisch einmischen soll, sondern Privatsache ist.“
Als ob Politik nicht auch und unbedingt eine „Privatsache“ sein sollte?
Das scheint mir so weder ganz richtig beobachtet noch beschrieben zu sein:
Es geht nicht um „Religion“, als ob es nur eine gäbe, als ob es nur Religion als Glaubensbekenntnis gäbe.
Es geht um „Religionen“.
So gesehen ist auch die Situation vor über 20 Jahren zu verstehen, in der nicht „die Religion“ gefragt war als home und Hüter äußerst defiziler demokratischer Bewegungen im Osten Deutschlands, sondern es waren dankenswerter weise fast überall dort „die Religionen“, stellvertretend für alle Glaubensbekenntnisse.
Das war eine eindeutig erkennbar politische Ausrichtung, sie beruhte auf der strikten einvernehmlichen gemeinsamen Grundlage Aller:
Der Trennung von Staat und deem Eigenleben der Glaubensbekenntnisse.
Sobald jedoch „die“ Religionen nun selber meinen, sie sollten nicht mehr für die Praktizierung „der (aller!) unterschiedlichen Glaubensbekenntnisse“ ein home und Hüter sein zu müssen und ihre diesbezüglichen Erscheinungen im Volk entsprechend anders ausrichten, sollten sie sich nicht wundern, wenn sie diesen sehr fruchtbringenden Ruf aus der Wendezeit nun nicht weiter erhalten können, zumindest nicht im zwischenzeitlich erlebten boom-Stadium.
Politische Ausrichtung auf das Ganze statt nur auf den politisch interessierenden eigenen Bereich schafft jeder Religion zwar keinen Machtanspruch im Staate, sehr wohl jedoch – wie bei jerdem Glaubensbekenntnis, das sich im Anspruch an der ganzen Vielfalt von Gesellschaft orientiert – die erhoffte gesellschaftlich breite Aufmerksamkeit und gelegentlich auch allgemeine Anerkennung.
In diesen Fragen scheinen auch an den Religionen die „blühenden Landschaften“ irgendwie vorbeigeschlittert zu sein, und das nicht nur im Osten.
Dennoch bleibt die interessiert gelesene Frage von den „Zwei Reichen“ als etwas „humpelnde“ Lehre zu klären:
Sie ist nur für bestimmte religiöse (und da nichteinmal für alle solche Menschen) Mitglieder unserer Gesellschaft eine so gedachte „Zwei-Reiche-Theorie“, denn für alle nichtreligiösen Menschen, die derzeit ca. 50 % der Bevölkerung ausmachen, gibt es halt nur das eine Reich:
Das der Gegenwart.
Bei der Erörterung solcher Überlegungen bietet es sich an, den oben genannten eigenen „Rückzug“ der Religionen in ihr Inneres mit Fokussierung auf ihr Eigenleben nicht noch weiter zu betreiben, indem z.B. die „Zwei-Reiche-Lehre“ mal eben (wie seit Jahrhunderten geübt) erneut auf die Gesamtheit der Bevölkerung annehmend anzuwenden. Das wäre eine dieser politischen Selbstentblößung, die mit zum eingangs frestgestellten Effekt des Rückzuges der Religionen aus dem politischen Ganzen beitragen könnte.
Ein noch viel größerer Fehler in genau diese Richtung wäre allerdings die Ansicht:
„Denn jede staatliche Ordnung ist nach Gottes Willen.“ – was für ein realer Unsinn:
Der DDR-Staat, der IS /Islamische Staat – die wären alle demnach „nach Gottes Wille“?
Wer so argumentiert, hat sich bereits selbst aus jeder aktuellen Politik separiert und brauch sich nicht über den eintretenden Effekt samt Fragwürdigkeiten zu wundern.
Wenn „Gottes Reich nicht von dieser Welt“ ist, kann auch kein Staat als demnach „nach Wille dessen, was nicht aus dieser Welt sei“, sein.
Solches beachtend, nicht nur für die eigenen Anhänger sondern für alle, ist es nicht nur erlaubt sondern geradezu erwünscht, sich als Glaubensgemeinschaft politisch zu artikulieren und in das Ganze gesund einzubringen und zu plazieren.
So mal betrachtet, verehrte Antje Schrupp, teile ich unbedingt deine Schlußfolgerung:
„Dass Menschen nicht losziehen und im Namen Gottes weltliche Macht beanspruchen oder ausüben, ist jedenfalls eine wesentliche Vorbedingung dafür. Gottes Reich ist garantiert nicht da, wo Menschen in Gottes Namen Macht ausüben“,
aber
„Es ist zwar auf dieser Welt, aber nicht von dieser Welt“ wäre dann die kleine Einschränkung, die nur für den religiösen Teil der Bevölkerung Sinn macht, das dann (auch aus meiner gottfreien Welt) hoffentlich und nicht nur nominell – wobei ich heftig an das „Türaufhalten“ im Kommentar von Bernd Kehren denke, aus gutem Grund, denn auch auf Erden kann es „Zwei Reiche“ geben, allerdings fehlt dazu die „Lehre“, von der wohl hier nicht die Rede ist und sein soll.
„Und zwar den klaren Ausspruch von Jesus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Johannesevangelium 18,26), an dem es ja eigentlich nichts zu deuteln gibt.“
Nur schade dass die meisten Bibelwissenschaftler Aussagen wie diese als nicht historisch, als fromme Erfindung sehen.