Falls jemand die Weihnachtspredigt des Bischofs von Passau, Stefan Oster, im Original nachlesen, abheften oder sonst etwas will.
Ich finde, sie ist ein Zeitdokument, weil sie sowohl die katholische (meiner Ansicht nach häretische) Familienideologie entfaltet, als auch den arrogant-paternalistischen „wir haben aber Verständnis für eure armen Seelen“-Duktus, als auch die Überschneidungen dieser Ideologie mit der Neuen Rechten (deren grundlegendes Anti-Gender-Narrativ der Vatikan nach Peking gesetzt hat), wie auch die klassische Opfer-Umkehr bis hin zur typischen AfD-Formulierung („Wir werden in eine Ecke gestellt“) und selbstverständlich die polemisch verzerrte Darstellung der „Gegenseite“, bei der klar wird, dass man sich überhaupt nicht bemüht, zu verstehen, was die anderen sagen oder wollen oder vorschlagen.
Gleichzeitig kann man bei der Lektüre dieses Textes auch nachvollziehen, dass und warum er auf fruchtbaren Boden fällt bei Menschen, die die gesellschaftlichen Debatten zum Thema Geschlechterdifferenzen in den vergangenen 10, 20, 30 Jahren nicht mitverfolgt haben und jetzt, wo Ergebnisse davon sich in medialer Repräsentation und politischen Maßnahmen niederschlagen, plötzlich merken, dass sich die Welt verändert hat, während sie sich in ihrer Bubble doch immer gegenseitig versichert haben, dass sie sich nicht verändert und ihre katholische Wahrheit die einzige wahre und legitime von Gott gewollte Wahrheit ist. Es gibt also einen Anteil von Leuten, die es tatsächlich „nicht böse meinen“ (auch sie sind natürlich verantwortlich, auch Ignoranz ist eine Sünde). Ich würde den Text als Quellenmaterial im Religionsunterricht einsetzen oder sowas.
Das Thema ist tiefer. Denn worüber ich von der katholischen Kirche (also ihren liberaleren, angeblich gar nicht rückwärts-gewandt, antifeministischen usw. Teilen) wirklich gerne mal etwas hören würde: Selbstkritik und Bedauern darüber, dass sie in ihrem Kulturkampf gegen die Beschlüsse der Pekinger UN-Frauenkonferenz 1995 das Zerrbild der „Gender-Ideologie“ erfunden haben, sich zu deren Bekämpfung mit islamistischen Regimes verbündet (und den Islamismus damit gesellschaftsfähig gemacht) haben und schließlich den Grund gelegt haben für die Genderismus-Erzählung, die heute zum Kitt für ganze rechtsradikale Szene geworden ist, eine breite antifeministische und antidemokratische Querfront vom IS bis zu Anti-Abtreibungs-Fundamentalisten bis zu Faschos wie wie Orban und Co und Querdenkerschwurblern und amerikanischer Alt-Right.
Sie alle beziehen sich auf diesen Spin, mit dem der Vatikan die feministischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zu diffamieren und auszuhebeln versucht hat. Ich glaube sehr wohl, dass nicht alles davon beabsichtigt war und dass diese Vorlage später auch gegen die Intention der katholischen Kirche gewendet wurde und so weiter.
Aber dennoch ist dieses sehr sehr dunkle Kapitel noch längst nicht aufgearbeitet und auch die sich selber als liberal verstehenden Teile des Katholizismus haben sich dafür noch nicht entschuldigt (also dafür, dass sie damals nicht lautstärker protestiert haben). Auch die anderen christlichen Kirchen, etwa die evangelische, haben in dieser Sache längst nicht klar genug gesagt, dass der Vatikan damals eine folgenreiche Fehlentscheidung getroffen und große große Schuld auf sich geladen hat – gegenüber den Frauen und gegenüber der Demokratie.
PS: Es gibt natürlich internen katholischen Protest, zum Beispiel von Catholics for Choice. Aber die Gesamtinstitution hat hier noch vieles aufzuarbeiten.
PPS: Ein bisschen einlesen zum Thema Religion und Gender kann man sich hier.
PPPS: Wer in das Thema noch tiefer einsteigen will, hier gibt es eine Zeitschrift „Religion und Gender“, allerdings kostenpflichtig.
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