Das Christentum ist besessen von Sex. Zwar ist es richtig, dass alle Religionen irgendwie den Sex regulieren – also wer mit wem wann Sex haben und Kinder zeugen darf. Aber das Christentum scheint in dieser Hinsicht doch besonders speziell zu sein. Und das, obwohl Sex und Kinderkriegen im Neuen Testament nicht besonders prominent vorkommt (anders als zum Beispiel Fragen von Armut, Gerechtigkeit, Frieden, Arbeit, Macht, Gewalt und so weiter).
Ich habe nie so recht verstanden, wieso eigentlich, dachte, es ist vielleicht Zufall oder der Lauf der Geschichte oder die Dominanz der USA und deren Prüdigkeit. Aber ein Buch, das ich gerade über „Antike christliche Apokryphen“ gelesen habe, brachte mich auf ein paar weiterführende Ideen. Mir wurde klar, dass es tatsächlich gewichtige Gründe dafür gab, dass sich die frühen Gemeinden von Jesus-Anhänger*innen nach dessen Tod mit dem Thema Sex beschäftigten.
Apokryphen sind Texte, die in den ersten drei Jahrhunderten geschrieben wurden, es aber nicht in den Kanon der Bibel geschafft haben. Sie spiegeln die Bandbreite von Ansichten und Themen, die in den Gemeinschaften damals diskutiert wurden. Erst im 4. bis 6. Jahrhundert entstand dann das, was wir heute unter Christentum verstehen – die Interpretation von Jesu Leben und Tod, die sozusagen in diesen Auseinandersetzungen „gewonnen“ hat. Vorher stand das noch nicht fest, und es gab noch viele „alternative Christentümer“, wie es in dem Buch heißt.
An folgenden fünf Punkten machte sich – so jedenfalls mein Eindruck nach der Lektüre – damals die Auseinandersetzung um Sex und Geschlechterdifferenzen fest:
Erstens: Was bedeutet es, dass Gott ein Mensch ist?
Die Frage nach der Natur Christi war besonders umstritten und wurde dann später (beim Konzil von Caledon 451) mit „wahrer Mensch und wahrer Gott, unvermischt und unteilbar“ entschieden – viele sagen, dass mit diesem Beschluss zugleich die Grundlage für die Entstehung des Islam gelegt wurde, denn eine erhebliche Menge an Leuten konnten das mit der Göttlichkeit Jesu nicht akzeptieren, weil sie darin eine Aufweichung des Monotheismus sahen. Dass es nur einen EINZIGEN Gott geben kann wurde dann un Islam besonders betont.
However, was den Gemeinden in den ersten frühchristlichen Jahrhunderten zu schaffen machte, war noch etwas anderes: Geburten galten im Judentum, aber auch in der Antike als etwas Unreines, als etwas Irdisch-Materielles, als Gegenpart zur geistig-spirituell-erhabenen Sphäre. Wurde also das Göttliche in Jesus nicht quasi verunreinigt, wenn er als Fötus sich durch einen Geburtskanal quetschen musste und voller Blut und Schmiere das Licht der Welt erblickte?
Das Geschlechtliche, die Rolle von Maria, die Gebürtigkeit Jesu und wie sie zu verstehen sind, waren daher wichtige Themen, die bei der Entstehung des Christentums zu klären waren. Manche Erzählungen versuchten, das Geschehen weniger eklig und feucht darzustellen, etwa indem Maria plötzlich an sich runterschaut und da ist plötzlich Baby Jesus ohne Schmerz und Schmutz quasi aus ihr herausdiffundiert. Andere bemühen sich, Maria theologisch „reinzuwaschen“, indem man zwar zugibt, dass sie irgendwie mit Sexuellem in Kontakt gekommen war, aber dann doch nicht so richtig, sondern „unschuldiger“. Das alles war also ein großes Thema.
Zweitens: Was bedeutet es, dass Jesus ein Mann war?
Wenn Gott ein Mensch ist, dann ist er auch geschlechtlich markiert – Jesus war ein Mann, keine Frau. Es musst also die Frage entschieden werden, in welchem Verhältnis diese Männlichkeit zur Bedeutung Christi stünde. Dazu gibt es einige interessante apokryphe Texte, in denen versucht wird, die Männlichkeit Jesu zu relativieren und aufzuweichen, weil man offenbar verstanden hatte, dass die ihn auch irgendwie partiell macht: Ein Mann ist eben nur eine von mehreren Varianten an Menschen. Wie kann er da für alle Menschen sprechen und relevant sein? Um diese Problem zu relativieren, gibt es zum Beispiel Texte, die Christus mit weiblichen Attributen ausstatten, etwa Brüsten, die Milch geben.
Die offizielle Theologie ging leider einen anderen Weg und legte die Tatsache, dass Jesus ein Mann war, nicht als Zufall aus, sondern als heilsrelevante Absicht. Von der wurde dann die Idee abgeleitet, nur Männer könnten seine Angelegenheiten auf der Erde verwalten (krasse Häresie, wenn ihr mich fragt).
Drittens: Was ist mit Adam und Eva, wenn es zurück ins Paradies geht?
Ein weiterer Themenkomplex, der die frühen Jesus-Gemeinschaften zur Beschäftigung mit sexuellen Dingen drängte, war die Paradiesgeschichte. Viele verstanden die Lehre vom Reich Gottes und die jesuanische Ethik so, dass sie den Menschen einen Weg wieder in paradiesische Zustände eröffnet – zur Erlösung eben. Das Paradies als Thema führt aber direkt zu Adam und Eva und damit der Frage der Entstehung und Bedeutung der Geschlechterdifferenz.
Die Vertreibung aus dem Paradies wird ja in der Genesis so geschildert, dass damit einhergehend die Menschen sich ihrer Geschlechtlichkeit bewusst wurden und nicht mehr „unschuldig“ nackig im Garten herumsprangen. Was also passiert mit der Geschlechtlichkeit, wenn wir wieder ins Paradies zurückkommen? Hören Frauen auf Frauen zu sein und Männer Männer, und wir sind wieder eins, Adam, das geschlechtslose Menschenwesen? Oder bleiben wir geschlechtlich markiert, aber die Unterschiede spielen keine Rolle mehr?
Viertens: Wie pflanzen wir uns fort, wenn Sex doch eine irdische Angelegenheit ist?
Das führt direkt zu einem weiteren Punkt, nämlich der Frage der Reproduktion. Im Paradies werden keine Kinder geboren, das muss Eva erst nach der Vertreibung aus dem Paradies. Ursprünglich erwarteten viele in der Jesusgemeinschaft das Ende der Zeiten für die nahe Zukunft. Da außerdem die Orientierung an „jenseitigen“ Maßstäben (und eine Abwertung „irdischer“ Verhältnisse) verbreitet waren, wurde die Ehelosigkeit (und also auch Sexlosigkeit) ein großes Ideal. Gerade übrigens auch für Frauen, die in den frühen christlichen Gemeinschaften eine Alternative zur Rolle der Ehefrau fanden. Nicht zu heiraten, nicht schwanger zu werden, war plötzlich etwas Gutes, etwas Angesehenes – auch das mag ein Grund dafür gewesen sein, warum das Christentum für so viele Frauen attraktiv war.
Aber das geht natürlich nicht, wenn die Weltgeschichte dann doch länger dauert als nur ein paar Jahre. Und so entstand die Notwendigkeit, zwischen diesen „enthaltsamen“ Ursprüngen und der mittel- und langfristigen Etablierung des Christentums irgendwie einen theologischen Ausgleich zu finden. Also erneut sich mit dem Thema Sex zu beschäftigen.
Fünftens: Welche Rolle haben die Frauen in der christlichen Gemeinschaft?
Der letzte Aspekt, der zu heftigen Debatten über Geschlechterverhältnisse führte, war die Notwendigkeit, die Rolle von Frauen in der entstehenden Kirche zu definieren. Die Antike damals war eine relativ patriarchale Zeit, sowohl das Judentum als auch das Römische Reich hatten damals ihre Führungsriegen exklusiv für Penisträger reserviert. Frauen hatten fest definierte Bereiche, in denen sie aktiv sein konnten, wobei es natürlich immer auch Ausnahmen gab. Aber im großen und ganzen war das „Frausein“ mit Machtpositionen nicht vereinbar.
In der Jesusbewegung waren aber relativ viele Frauen aktiv, wie man schon in den Evangelien nachlesen kann. Die erste Auferstehungszeugin und „Apostelin der Apostel“ war Maria von Magdala, eine Frau. Wie wir aus der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen wissen, gab es etliche Gemeinden, die von Frauen gegründet, geleitet (und finanziert) wurden. Die frühen Gemeinschaften mussten also entscheiden, wie das mittel- und langfristig weiter gehen sollte.
Das betrifft nicht nur den Streit um Ämter und Institutionalisierung. Es betrifft auch die Frage der Lehrautorität – ganze Evangelien beschäftigen sich mit der Frage, welche Autorität etwa Maria von Magdala hatte. Musste man ihr glauben, auch wenn sie eine Frau war? Und wie sollte das gehen?
Alles ja letzten Endes Fragen, die im Christentum auch heute noch nicht umfassend und zufriedenstellend geklärt worden sind.
Zum Weiterlesen: Outi Lehtipuu /Silke Petersen (Hg) Antike christliche Apokryphen. Marginalisierte Texte des frühen Christentums. Kohlhammer 2020.
Nun ja, da dieses Thema je älter man wird immer mehr an Bedeutung verliert, umso weniger macht einem die Prüderie etwas aus.Jesus hat wahrscheinlich als Person wirklich existiert. Gott als Person aber sicher nicht.