Begreifen, dass Gott tot ist

Übermorgen ist wieder Karfreitag, das Stiefkind unter den Feiertagen. Man weiß nicht so recht, was damit anfangen. Klar, man kann sich aufregen, dass öffentliche Tanzveranstaltungen verboten sind, aber das ist irgendwie doch kleinkariert. Zumal die Debatte um das Tanzverbot in den vergangenen Jahren fast das Einzige war, was man vom Karfreitag überhaupt noch mitbekommen hat.

Der, wie manche sagen, höchste christliche Feiertag dümpelt schon länger vor sich hin. Zwar finden es viele praktisch, dass er arbeitsfrei ist, ein schöner Auftakt für die sogenannten Osterfeiertage. Aber wirklich begangen wird der Tag doch eher nicht. So langsam könnte man ernsthaft die Frage stellen, warum es ihn eigentlich überhaupt noch gibt. Zumal der Karfreitag, anders als Weihnachten und Ostern, auch noch vollkommen unbrauchbar ist, um die Konsumwirtschaft anzukurbeln. Schoko-Kruzifixe und Dornenkronen-Deko? Eben!

Ältere erzählen mir, wie es früher war: Da zogen sich an diesem Tag alle tiefschwarze Trauerkleidung an und gingen in die Kirche. Im Fernsehen lief nur getragenes Programm, im Radio nur klassische Musik, zu essen gab es Fisch, wenn überhaupt. Kinder durften nicht herumtoben oder laut lachen, denn es war ein ernster, ein trauriger Tag: der Tag, an dem Jesus gekreuzigt wurde.

Heute ist es eigentlich ein Tag wie jeder andere, nur die Geschäfte sind geschlossen.

Vielleicht ist dieser Bedeutungsverlust des Karfreitags einfach eine logische Folge der schrumpfenden Bedeutung des Christentums – Jesus und sein Schicksal ist den meisten Menschen heute eben egal. Aber das allein erklärt es nicht wirklich. An Weihnachten und Ostern geht es ja auch um Jesus und diese Feste sind trotzdem gesund und munter. Man hat schon hartgesottene Atheistinnen an Heiligabend rührselig werden sehen – wer freut sich auch nicht über ein Licht in der Dunkelheit und so eine Geburt ist eben ganz generell ein Symbol für Neuanfang und Hoffnung. Auch Ostern ist problemlos inter-, über- und unreligiös zu deuten: die Feier der Fruchtbarkeit, des Frühlings, der Sonne, der aufblühenden Buntheit. Man muss nicht christlich sozialisiert sein, um damit etwas anfangen zu können.

Der Karfreitag hingegen ist tatsächlich eine christliche Spezialität: Eine grausame Hinrichtung als Dreh- und Angelpunkt der Erlösung der Menschen? Diese Idee ist alles andere als selbsterklärend. Schon zu Paulus‘ Zeiten war das Kreuz, wie er an die Gemeinde in Korinth schrieb, „den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit“.

Und die christliche Kirche hat in den nachfolgenden 2.000 Jahren ziemlich viel unternommen, damit das auch so blieb. Dass das Kreuz den meisten Juden und Jüdinnen bis heute „ein Ärgernis“ ist, liegt ja keineswegs nur an theologischen Differenzen über die Messianität Jesu, sondern vor allem daran, dass es in christlich dominierten Regionen an Karfreitagen regelmäßig zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung gekommen ist: Sie hätten Jesus ans Kreuz gebracht, wurde von den Kanzeln gepredigt, was nicht stimmt, denn eine Kreuzigung als Hinrichtungsmethode war ganz klar eine Spezialität der Römer. Aber mit Logik und Fakten hatte es der Rassismus ja noch nie.

Gläubige anderer Religionen und Atheisten hingegen halten die Idee, ausgerechnet ein gewaltsamer Foltertod könnte der Wendepunkt zur Erlösung der Menschheit sein, bis heute für bekloppt, auch wenn sie das aus Höflichkeit meist nicht so direkt sagen. Ein Wunder ist auch das nicht, wenn man sich anschaut, welch düstere Opferideologie die Theologen des Mittelalters aus der Kreuzigungsgeschichte herbeikonstruierten: Jesus als Gottes Sohn, der vom eigenen Vater „geschlachtet“ wird, und zwar stellvertretend für die Schuld der Menschen. Das Ganze opulent visualisiert mit detailreich gezeigten nackten Männerkörpern, aus denen das Blut nur so herausströmt. Diese Gewalt- und Leidbesessenheit nahm streckenweise geradezu obszöne Dimensionen an, und sie half außerdem einem autoritär-patriarchalen Klerus dabei, Menschen Schuldgefühle, Angst und Schrecken einzujagen und sie damit gefügig zu machen.

Ein Glück, dass sich die abendländische Kultur im Zuge der Säkularisierung von dieser Verirrung halbwegs befreit hat, übrigens auch das Christentum, was maßgeblich der Befreiungstheologie und der feministischen Theologie zu verdanken ist. Einzig in Hollywood wird noch das Narrativ vom maskulinen Helden gepflegt, der nicht zögert, sich zur Rettung der Welt selbst zu opfern, gerne auch explizit blutig. Doch selbst dort, auf der Kinoleinwand, wirken diese Möchtegern-Messiasse zunehmend lächerlich.

Also, was tun mit dem Karfreitag? Ihn als gesellschaftlichen Feiertag endgültig aufgeben? Als privaten Spleen einer kleinen Minderheit betrachten, nämlich den etwa vier Prozent Christinnen und Christen, denen dieser Tag für ihre persönliche Frömmigkeit noch wirklich etwas bedeutet?

Eine andere Möglichkeit wäre, Karfreitag von einer neuen Seite her wieder Leben einzuhauchen, wenn auch vielleicht nicht gerade so, wie es die Auto-Tuner-Szene tut, die am Carfreitag zu gemeinschaftlichem Motorheulen, Hupen und teilweise auch illegalen Autorennen aufruft. Das passt zwar insofern, als es dabei auch schon zu Toten gekommen ist, übertrifft aber das Original an Torheit bei Weitem.

Interessanter ist eine Idee von fünf Aktivistinnen aus der Schweiz, die vorschlagen, die Karwoche zur Care-Woche zu machen. Die Vorsilbe Kar-, so ihr Argument, stammt von dem althochdeutschen Wort Kara ab, das so viel bedeutet wie „Klage, Trauer, Sorge“ und mit dem englischen Wort Care verwandt ist. Damit verweise der Karfreitag auf ein Thema, das heute vielleicht die größte gesellschaftliche Herausforderung darstellt – die ungelöste Frage der Care-Arbeit, also wie wir künftig all das organisieren wollen, wofür in neoliberaler Logik immer weniger Zeit und Ressourcen vorhanden sind: Pflegen, Putzen, Versorgen, Erziehen, Heilen, Betreuen, Kochen, Ausbilden.

Sowohl bei der Kreuzigung als auch bei der ungelösten Frage der Care-Arbeit geht es um körperliches, physisches Leid, um den menschlichen Körper mit seinen unmittelbaren und unaufschiebbaren Bedürfnissen nach Nahrung, Kleidung, Obdach. Und kein Gott weit und breit, der dieses Problem löst, der Jesus vom Kreuz holt oder frierende Flüchtlinge aus Idomeni rettet.

Warum hilft Gott nicht? Darauf lassen sich viele Antworten geben, von „Weil er nicht will“ bis „Weil es ihn nicht gibt“. Die Antwort, die der christliche Karfreitag gibt, ist im Religionsvergleich außergewöhnlich und eben auch ein bisschen „töricht“, denn sie lautet: Weil Gott nicht der große Zampano ist, der vom Himmel aus die Dinge regelt, sondern sich in so einem Fall dazugesellt: mitleidet, mitfriert, mitstirbt.

Gott ist nicht tot, weil Philosophen wie Nietzsche das theoretisch hergeleitet haben. Sondern Gott ist tot, weil wir Menschen einander an Kreuze nageln. Weil wir andere in Kriegen bombardieren, in Meeren ertrinken lassen, durch unüberwindbare Grenzen von rettenden Lebensressourcen abschneiden. Weil wir es zulassen, dass Menschen aus Armut verzweifeln, durch Gleichgültigkeit in Vergessenheit geraten, vor Einsamkeit depressiv werden. 

Der Karfreitag könnte ein Feiertag sein, an dem wir uns diese brutale Realität der Menschheit ganz ohne verschönerndes Brimborium vor Augen führen. Ein Tag im Jahr, an dem wir kollektiv nicht die Augen vor dem Elend verschließen, sondern es uns ganz bewusst vergegenwärtigen. Ein Tag, an dem wir nichts beschönigen, sondern hinschauen, wie das Blut fließt, auch wenn es uns erschreckt und Angst macht. Nicht, um uns schuldig zu fühlen. Sondern um uns der Wirklichkeit zu stellen. Ein Tag, an dem wir nicht behaupten, schnelle Lösungen zu haben, wenn uns nur mal jemand machen ließe. Sondern ein Tag, an dem wir es aushalten, keine Lösung zu haben.

Aushalten, dass Gott tot ist.

(Erschienen am 23.3.2016 auf Zeit-Online)

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